Das Tagebuch von Heidi Nothwang

Das Transskript des Tagebuches ist inzwischen bei Amazon als eBook und als Taschenbuch erhältlich. Der Titel ist: vom BDM zur Gestapo

Tagebuch eines 1922 geborenen Mädchens auf seinem Weg durch BDM und Gestapo und später dann zum Antinazi und Mitglied der Grünen

Ich habe nach dem Tod meiner Mutter ihre Tagebücher gefunden. Von deren Existenz hatten wir nie etwas gewusst. Da es in den Tagebüchern um eine Liebesbeziehung zu einem Gestapo Offizier geht, kann ich mir gut vorstellen warum. Die Bücher sind in Sütterlin geschrieben, deswegen habe ich sie transkribiert. Manche Stellen konnte ich nicht eindeutig entziffern, deswegen habe ich das Facsimile ins Netz gestellt. Ich glaube, dass dieses Tagebuchs einer 1922 geborenen Frau, die dann in den letzten Kriegsjahren bei der Gestapo als Werkstudentin arbeitete, es wert ist, öffentlich bekannt zu sein, da unser Verständnis, wie es zum Nationalsozialismus und den damit verbundenen Gräueln hat kommen können, meines Erachtens noch nicht sehr weit gediehen ist.

Die BDM Zeit und die Frankreich Zeit

Das Tagebuch aus den Jahren 1936 bis 1945 beschreibt ihre Zeit als Schülerin eines Mädchengymnasiums in Stuttgart und später ihre Zeit in Angers im besetzten Frankreich, als sie Geliebte ihres Chefs war. Anschließend schildert sie den Rückzug aus Angers über Paris nach Deutschland unter alliiertem Beschuss. Sie war damals 22 Jahre alt, hatte eine begeisterte Zeit als BDM Mädel hinter sich und hatte anschließend Englisch und Französisch in Heidelberg studiert.

Ihren Tagebücher stellt sie ein Zitat von Walter Flex voran: “reif werden und rein bleiben”. Sie schreibt die Tagebücher in einem Stil, als ob sie durchaus damit rechnen würde, dass es irgendeinmal veröffentlicht wird. Sie war vom Großdeutschen Reich begeistert und dachte ihre Tagebücher würden vielleicht in fernen Tagen die Geschichte der Entstehung des Großdeutschen Reiches beschreiben könnten. So halte ich es auch für gerechtfertigt, sie zum Verständnis der Geschichte des Zusammenbruchs des Großdeutschen Traums zu verwenden.

Die Gefangenschaft

Nach dem Krieg war meine Mutter einige Zeit, ich glaube ungefähr ein Jahr in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Sie war ja immerhin eine Mitarbeiterin der Gestapo gewesen. Sie schilderte diese Zeit als eine glückliche und sinnvolle Zeit: Sie hätten viel gesungen seien recht gut ernährt worden und hätten viel geredet. Es habe Austausch mit den Männern, die auf der anderen Seite des Stacheldraht eingesperrt waren, gegeben, sonst erzählte sie nicht viel. Wie die Entnazifizierung stattfand, darüber sprach sie nicht, obwohl sie nach dem Krieg links und pazifistisch geworden war und in späteren Jahren als Zeitzeugin in meist evangelischen Zusammenhängen auftrat. Selbstkritisch stellte sie fest, dass ihre Freundin Tilly, die ebenfalls für die Gestapo in Amsterdam gearbeitet hatte, das unmenschliche des Regimes schon damals verstanden habe, das sie selbst ja nur im Nachhinein verstanden hat.

Die Erinnerungen von HN

Sie hat über ihre Zeit bei der Gestapo wenig erzählt. Anekdotisches, zum Beispiel, dass sie Angers die lokalen Zeitungen nach heimlichen Botschaften durch zu sehen hatte, aus denen die Widerstandskämpfer und auch die Besatzer entnehmen konnten, welche Farbkodierung die Fallschirme, die die Alliierten abwarfen, hatten. Ferner erzählte sie, dass ihr Chef sie einmal gedrängt hatte seine Pistole aus einem anderen Raum zu holen, was sie erst verweigert habe, da sie mit so etwas nichts zu tun haben wollte. Als sie sie dann schließlich doch holte, habe sich ein Schuss gelöst. Sie trug zeitlebens die Patrone in ihrem Geldbeutel.

Die Familie von H. N.

Vieles über die Familie meiner Mutter im Nationalsozialismus kann ich mir zusammenreimen. Ihr Vater, mein Großvater, der als Missionar 17 Jahre in Ghana gelebt hatte und dort 3 seiner Kinder bekommen hatte, war offensichtlich Anti Nazi gewesen. Aber er hatte es nicht verhindern können, dass sich eine seiner großen Töchter, Margret bemühte, dem Führer ein Kind zu schenken und dies denn auch tat. Und er konnte auch nicht verhindern, dass seine beiden kleinsten Töchter begeisterte BDM Mädels wurden. Dass sein Sohn als Linker und als Homosexueller Deutschland zu Beginn der Nazizeit verlassen hatte und Engländer wurde, dürfte er auch nicht besonders gut gefunden haben.

Es wurde kaum gesprochen

Aber über diese Dinge wurde nicht gesprochen. Was die anderen Töchter und Schwiegersöhne in Bezug auf die Nazis taten oder dachten, ist mir kaum bekannt. Mit einer gewissen Larmoyanz wurde von manchen über die Entnazifizierung gesprochen.

wie ging es nach dem Krieg weiter ?

Ich denke, dass die Ängstlichkeit und vielleicht auch die physische Hinfälligkeit meiner Mutter durchaus etwas mit dem schlechten Gewissen über die Nazizeit zu tun hat. In den Tagebüchern wunderte ich mich über ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut Dinge auszusprechen. Wie ich sie selbst kannte, war sie eher ängstlich und zurückhaltend, konnte keine Meinung vertreten. Ich glaube, dass sie nach dem Krieg das Gefühl hatte, sie dürfe nie wieder eine Meinung haben, dann könne sie auch nichts falsch machen. Meine beiden Eltern fühlten sich in meiner Kindheit und Jugend erst der Ostermarschbewegung, gleichzeitig auch den Quäkern, später den Grünen nahe. Auf ihrer alten Tage, ungefähr zur Zeit meines Abiturs, wurden sie Mitglieder der Grünen. Sie demonstrierten gegen Atomwaffen und Atomkraftwerke. Über all diese Themen konnten sie mit uns nicht reden. Meine Mutter blieb völlig zurückhaltend, mein Vater war gekränkt, wenn man seine Meinung nicht teilte. Gleichzeitig waren sie beide recht aktiv und übersetzten pazifistische Schriften aus dem englischen und auch aus dem französischen und italienischen.

Versuche der Widergutmachung

Mit Nazi Gräueltaten beschäftigten sie sich nicht wenig: Sie übersetzten Französischen ins Deutsche. Es handelt von einem Dorf im Schweizer Jura, wo ein Pfarrer zahlreiche jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz schmuggelte und dabei sein ganzes Dorf dazu brachte zu helfen. Auch ein Besuch in Oradour, vermutlich in einer evangelischen Reisegruppe, beschäftigte sie sehr.

Seit dem Krieg waren meine beiden Eltern Vegetarier, ich empfand das zeitweilig als ziemlich unsympathisch, da es eine deutlich intolerante und aggressive Seite hatte. Menschen, die nicht Vegetarier waren, wurden oft sehr abwertend bezeichnet. Das brachte mich als Kind in schwierige Situationen. Ich denke, dass beide ein gewisses Misstrauen gegenüber dem eigenen Denken hatten und fürchteten, dass dieses sie wieder auf einen falschen Weg bringen könnte.

Hier die Originale, das copyright liegt bei Heinrich und Georg Schimpf

Die Originale

Die Zeit als Schülerin
Die Teit im besetzten Frankreich
Betrachtungen von H. N. aus dem Jahre 1993 über ihre Kindheit und Jugend im Nazionalsozialismus

Hier können Sie Ausschnitte des Buches lesen.

1 thought on “Das Tagebuch von Heidi Nothwang”

  1. HORST LINDSTEDT

    Als kleines Kind wohnte ich vor der Einschulung mit meinen Eltern und meiner Schwester in einem Mietshaus in Essen-Frohnhausen. Dort gab es einen Nachbarn, der schon damals alt aussah, pfeiferauchend in seinem Lehnstuhl saß und über den spitzen Stein stolperte (Norddeutscher).
    Als ich ca. 40 Jahre alte war, entschied ich mich, ihm ab und zu einen Besuch abzustatten, wenn ich meine Eltern in Essen besuchte. Es hat mich jedesmal sehr berührt, wenn Paul Kindler berichtete. Stets ein eindrucksvolles, spannendes Ereignis in meinem Leben. Er hat mir diese Geschichte immer wieder erzählt.

    Vorneweg betonte er, dass er immer eine große Klappe gehabt habe. Paul wohnte 1938 in Bremen.

    Am frühen Morgen des 10. Nov. 1938 hat er wie immer die Weserfähre über den Fluss zur großen Focke Wulf Flugzeugwerft genommen. Kaum war der junge Lehrling an seinem Arbeitsplatz, wurde er vom Werkschutz aufgefordert, in das Büro des allerobersten Direktors der riesigen Fabrik mitzukommen. Dort warteten bereits drei Herren in grauen Mänteln. Der Chef bittet die Gestapo-Kerle sich zu erklären. Sie behaupten, dass Kindler frühmorgens auf der Fähre den Führer u. das gesamte deutsche Volk beleidigt habe.

    “Bitte junger Mann, äussern Sie sich”, wendet sich der Betriebsleiter an Paul.

    Er legt dar, dass er im Gespräch mit Kollegen die Vorgänge in der vergangenen Nacht kritisiert habe. Es sei eines souveränen Staates unwürdig, seine Bürger von besoffenen Horden in Unterwäsche durch die Straßen treiben zu lassen, deren Geschäfte zu zerstören und zu plündern. Dies müsse dem Führer sofort gemeldet werden, damit dem Treiben der SA ein Ende bereitet werde.

    Daraufhin widerspricht die Gestapo. Die ganze Sache sei von aller oberster Stelle angeordnet worden, der Führer Adolf Hitler wisse sehr wohl Bescheid. Paul rief aus: wenn das stimmt, dann möchte ich kein Deutscher mehr sein. Dann sei der Chef aufgestanden und meinte: ‘Wenn das so ist, dann stimme ich dem zu’ und soll zu den drei Herren in grauen Mänteln gesagt haben: Dort ist die Tür. Sie sind abgezogen. Passiert ist nichts.

    Im September des nächsten Jahres beginnt der Weltkrieg. Paul wurde zum Militär einberufen, er kam, wie er es sich gewünscht hatte, zur Luftwaffe. Innerhalb kürzester Zeit und mit sehr begrenzten Mitteln hatten die deutschen Piloten die Kontrolle von schwerem Fluggerät zu erlernen. Mancher seiner Kameraden kam gleich bei den ersten Starts mit der Messerschmitt 109 ums Leben. Diese Turbopropmaschine mit über 900 km/h Geschwindigkeit war nicht einfach zu fliegen.

    Als die ersten Bomber über dem Himmel von Bremerhaven auftauchten, saß er hinter dem Steuerknüppel der ME 109, damals das schnellste und beste Jagdflugzeug der ganzen Welt .

    Bei drei Einsätzen hat er zwei amerikanische Bomber abgeschossen. Während des 4. Einsatzes schoss er gleich drei amerikanische fliegende Festungen ab, was nicht so einfach war. Denn die Messerschmitt hatte einen Nachteil. Ihre Bordkanonen hatten weniger Reichweite als die Maschinen der Amis. D.h. die deutschen Piloten mussten in das Feuer der US-Flugzeuge fliegen, um Treffer erzielen zu können.

    Bei diesem Einsatz wurde seine Maschine leicht beschädigt, es gelang ihm aber zu landen. Am nächsten Tag traf der Geschwaderkommodore ein, wahrscheinlich war das eins der berühmten deutschen Fliegerasse. An ein konkretes Gesicht konnte sich Paul nicht mehr erinnern.

    Der Offizier hatte das Eiserne Kreuz dabei, das dem jungen Piloten im Auftrag von Hermann Göring verliehen werden sollte. Paul lehnte ab mit den Worten: “Ich möchte nicht vom größten Idioten der deutschen Luftwaffe einen Orden entgegennehmen.” Das Fliegerass glaubte seinen Ohren nicht zu trauen und zerrte ihn zu einem Vieraugengespräch.

    Dort ermahnte er Kindler eindringlich: “Sie bringen sich und ihre Kameraden in allergrößte Lebensgefahr. Sie können nicht nein sagen.”

    Ich weiss nicht, ob er schließlich eingewilligt hat. Jedenfalls ist Paul danach nie mehr geflogen. Nicht vergessen: Er hatte in kürzester Zeit 5 feindliche Flugzeuge abgeschossen.

    Als der Krieg vorüber war, arbeitete er 1946 als Automechaniker in einer privaten Kfz-Werkstatt in Bremen. Eines Nachmittags kam in einem Ami-Jeep ein hoher Offizier der Westalliierten vorbei, um mit ihm zu sprechen. Da er sich nichts vorzuwerfen hatte und 1946 die deutsche Polizei schon mitkommen musste, um jemanden auf die alliierte Kommandozentrale vorzuladen, antwortete er dem Offizier selbstbewusst, er möge doch nach Feierabend wieder vorbeikommen. Dann sei er zum Gespräch bereit.

    Nach Feierabend tauchte der deutschsprechende US-Offizier wieder auf, nahm den jungen deutschen Zivilisten mit zur Kommandantur und bot ihm eine Zigarre an. Das war damals ein Zeichen von grossem Respekt. Er fragte Paul: “Sagen Sie junger Mann, waren Sie am Widerstand gegen die Nazis beteiligt?” Nun, sagte Paul, “aktiv nicht, passiv schon. Warum?”

    Der Ami nahm Paul mit in einen Archivraum. Dort standen etliche Aktenordner der Gestapo über Paul Kindler im Regal.

    Paul hat mir diese Geschichte, die mit der Reichskristallnacht ihren Anfang nimmt, mehrmals erzählt.

    “Irgendjemand hat mich beschützt in all den Jahren, denn es ist mir nichts passiert.”

    Mich hat immer der Schlag getroffen, wenn er ganz zum Schluss feststellte:

    “Auch ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Juden aus Deutschland verschwunden wären, allerdings nicht auf diese menschenverachtende Art und Weise.”

    Warum fragte ich ihn?

    Seine Erwiderung:
    “In der Zeit der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger Jahre gab’s im deutschen Reich Millionen Arbeitslose ohne Unterstützung. Wenn wir Sonntags ausgingen, dann spazierten die Juden immer im feinsten Zwirn durch die Stadt. Ihnen ging es gut.”

    Paul war durchaus kein durchgeknallter Nazi, seine Reaktion nach den Abschüssen war sehr leichtsinnig.

    Meine Absicht ist nur darzustellen, wie zig Millionen unserer Vorfahren dachten. Hinzu kommt, dass es natürlich so feine Dinge wie Demokratie, Rechtsstaat u. Menschenrechte damals nicht gab. Am 24. März 1933 hatte bekanntlich das deutsche Volk, vertreten durch die Reichstagsabgeordneten, beschlossen die Demokratie freiwillig aufzugeben.

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